Die gute Tat zählt

DIE ZEIT, 8.5.2013 Nr. 20

von Giovanni di Lorenzo

Eine Gesellschaft, die anerkennt, dass auch Vorbilder fehlbar sind, wird am Ende freier sein.

Ungefähr eine Woche nachdem die Selbstanzeige des Uli Hoeneß auf den Markt gekommen war, sprach im Fernsehen eine Pastorin aus Niedersachsen ein anrührendes „Wort zum Sonntag“: Sie wolle sich trotz Hoeneß nicht den Glauben daran kaputt machen lassen, dass es weiter Vorbilder auf dieser Welt gebe: „Wir brauchen Menschen, die mit ihrer ganzen Person für das einstehen, was sie sagen.“ Auch in den vielen Kommentaren im Netz und Zuschriften an die Medien kommt diesmal nicht nur die notorische „Hängt ihn“-Fraktion zu Wort. Anders als bei Delinquenten aus Politik und Wirtschaft bricht sich angesichts des prominenten Steuerhinterziehers aus der Fußballwelt vor allem Unverständnis und Enttäuschung Bahn: Ausgerechnet Uli Hoeneß! Woran soll sich denn eine Gesellschaft halten, deren Hoffnungsträger so tief fallen?

Was offenbar keine Rolle spielt, ist eine andere Frage, deren Antwort nicht nur Trost verspräche, sondern auch die große Verstörung über Uli Hoeneß mindern könnte: Brauchen wir wirklich Vorbilder ohne größeren Fehl und Tadel? Und wenn es sie so selten gibt, kann das nicht auch daran liegen, dass unsere Vorstellung vom Vorbild lebensfremd, gelegentlich sogar infantil ist?

Ein einziger Fehler verdunkelt oft die ganze Lebensleistung

Es fällt jedenfalls auf: Verfehlungen von prominenten Leitfiguren werden in einer Weise übel genommen und medial geahndet, dass am Ende in den meisten Fällen nicht nur der berufliche Absturz steht, sondern eine so rabiate öffentliche Reaktion, als sei das Publikum durch die Tat ganz persönlich beschädigt worden. Dahinter steht die Erwartung, dass jemand, der einen besonderen Status genießt, sich diesen durch herausragende Arbeit und durch unangreifbares Verhalten in jeder Lebenslage verdienen muss. Wehe denen, die dem nicht gerecht werden! Die ehemalige Fußballmanagerin Katja Kraus hat in einem kürzlich erschienenen Buch lauter Prominente beschrieben, die einen brutalen Karriereknick erlebt haben, vom früheren Telekom-Chef Ron Sommer bis zum ehemaligen SPD-Politiker Björn Engholm. Die meisten leiden bis heute nicht so sehr am Fehler, über den sie stolperten, sondern daran, dass sich die öffentliche Wahrnehmung auf diesen Fehler fokussiert, wodurch die gesamte Lebensleistung verdunkelt wird.

Wir leben in einer Gesellschaft, die sich ihrer christlichen Wurzeln kaum noch bewusst ist, sonst wäre vermutlich stärker präsent, dass der Sündenfall zum Gründungsmythos unserer Religion gehört. Wir leben zudem in einer selten friedvollen Zeit, in der zivilisatorischer Firnis manch menschlichen Abgrund übertüncht hat. So konnte der Eindruck entstehen, dass das Böse und Fehlerhafte nur noch in anderen Ländern oder in Kriminalfällen zu besichtigen sei. Was an Lasterhaftem und Unschönem im Menschen geblieben ist, kann demnach allmählich wegerzogen oder verboten werden.

Der Mensch bleibt aber ein gefährdetes Wesen, offenbar besonders dann, wenn ihm viel Talent, Ausstrahlung und Möglichkeiten (auch zum Fehlermachen) zur Verfügung stehen. Völlig abwegig scheint jedoch die Vorstellung zu sein, dass gerade solche Persönlichkeiten oft außergewöhnlich komplex und widersprüchlich sein können, weshalb sie auf einem Feld herausragende Leistungen vollbringen, auf dem anderen aber schwach und angreifbar sein können. Kaum ein Held der Weltgeschichte würde noch als solcher dastehen, hätte man ihn nach heutigen Maßstäben durchleuchtet.

Es geht nicht darum, die Steuerhinterziehung, so wie sie Uli Hoeneß betrieben hat, zu verharmlosen, nach dem Motto: Wir sind alle kleine Sünderlein. Wobei – wenn man nicht die Höhe der am Fiskus vorbeigemogelten Summe, sondern das Prinzip der Steuerehrlichkeit zum Maßstab machte und plötzlich all jene inkriminierte, die schon mal versucht haben, dem Finanzamt ein Schnippchen zu schlagen, dann wären deutsche Steuerbehörden und Gerichte über Jahrzehnte mit nichts anderem mehr beschäftigt. Bei Hoeneß geht es aber bekanntlich nicht um ein Bagatelldelikt, und so wird er einen hohen Preis bezahlen: Auch wenn er als Präsident und Aufsichtsratsvorsitzender des FC Bayern bis auf Weiteres bleiben darf, er wird eine Millionenstrafe zahlen müssen und womöglich im Gefängnis landen. Und da ist der mediale Pranger, der vielleicht schlimmer ist als alles andere, noch gar nicht mitgerechnet.

Vollends maßlos wird es dann, wenn in der öffentlichen Wahrnehmung all das, wofür ein Vorbild steht, plötzlich keinen Wert mehr haben soll: Ist Hoeneß etwa kein guter Fußballmanager, ist sein soziales Engagement nichtig, vieles von dem, was er zu Politik und Gesellschaft gesagt hat, falsch, weil er Steuern hinterzogen hat? Oder ist eine Margot Käßmann unglaubwürdig geworden, weil sie in einem schwachen Moment mit zu viel Alkohol im Blut am Steuer erwischt worden ist? Fast alle Protagonisten von Skandalen in den vergangenen Jahren haben ihr Amt verloren. Doch vielen Menschen reicht das als Strafe nicht. Zum Rücktritt kommt dann noch die gesellschaftliche Entehrung. Das ist Grausamkeit im Zeichen der Tugend.

Jede Gesellschaft lebt auch von Vorbildern. Wenn wir uns aber von dem Gedanken frei machen, dass vorbildliche Menschen dazu verurteilt sind, ihr Leben lang vorbildlich zu bleiben, dann werden wir am Ende freier sein. Denn dadurch werten wir unser eigenes gutes Handeln auf. Und bewahren uns vor sicherer Enttäuschung. Es ist die gute Tat, die Mut machen soll – nicht der Mensch als solcher.