Langzeitschäden der Rettungspakete: Beschädigte Anker*

von Henning Klod

Quelle: IfW Fokus 144, 25. Juli 2013

Bei der Finanz- und Staatsschuldenkrise im Euro-Raum geht es um mehr als die in Fässern ohne Boden verschwindenden Rettungsgelder – wobei diese Fässer für sich genommen schon problematisch genug sind. Zählt man für Deutschland die Haftungssummen aus EFSF, ESM und dem ersten Griechenland-Paket zusammen, addiert dazu die auf Deutschland entfallenden Anteile an den von der EZB gehaltenen dubiosen Staatsanleihen und nimmt schließlich die auf Deutschland entfallenden Anteile an den Target-II-Defiziten der Krisenländer hinzu, so ergibt sich eine gesamte Haftungssumme, die nicht weit von der Billionengrenze entfernt ist.

Die Krise verursacht aber darüber hinaus gesellschaftliche Langzeitschäden, die mit aus den Fugen geratenen Wertmaßstäben zu tun haben. Politiker und Bevölkerung gewöhnen sich allmählich daran, dass die Milliarde eigentlich doch eine recht überschaubare Zahl sei, und die Billion erscheint gar nicht mehr als unvorstellbar groß. Die Politik ist im Zuge der Krisenbewältigung wie selbstverständlich dazu übergegangen, mit Euro-Beträgen zu hantieren, bei denen ihr vor wenigen Jahren noch schwindelig geworden wäre.

Die Folgen der verrutschten Maßstäbe zeigen sich zunächst einmal in der Aufweichung der staatlichen Ausgabendisziplin. Wer will sich schon über einzelne Etatposten grüblerische Gedanken machen, wenn ihre Volumina unterhalb der Milliardengrenze liegen. Wer will sich denn mit Steuerentlastungen und Subventionsabbau herumplagen, wenn es dabei doch nur um zwei- bis dreistellige Millionenbeträge geht, die weniger als 1 Prozent dessen ausmachen, womit Deutschland bei den Rettungsschirmen in der Haftung steht.

Auch für die Bürger verschwimmen die Unterschiede zwischen Millionen, Milliarden und Billionen. Es ist ihnen nur noch schwer zu vermitteln, weshalb man sich bei der Rettung von Banken und Krisenländern so großzügig gibt, während auf der nationalen Ebene das Geld knapper als je zuvor zu sein scheint. „Bei den Banken sind sie fix, für die Bildung tun sie nix“ skandieren die Studenten. Analoge Gesänge stimmen die Empfänger von Sozialleistungen an, denen Leistungsverbesserungen verweigert werden, die weitaus weniger Kosten verursachen würden als die Bankenrettungen.

Wenn man die Konsequenzen der verrutschten Maßstäbe analytisch fassen will, bietet sich ein Ausflug in die Verhaltensökonomik an. Ein zentraler Begriff in diesen Ansätzen ist der sogenannte „Anker“. Anker spielen überall dort eine Rolle, wo es uns schwer fällt, ein Urteil darüber zu fällen, ob wir bestimmte Kategorien als groß oder klein ansehen sollen.

Ein Beispiel: Probleme mit der Urteilsfindung über zu hohe oder angemessene Preise haben wir auf den Basaren in fernen Ländern, wo wir oftmals weder die Produkte noch die landesüblichen Preisstrukturen wirklich kennen. Der Basarhändler weiß das natürlich und nennt uns Touristen gegenüber zunächst einmal einen astronomisch hohen Preis, an den er selbst nicht glaubt und den auch wir für überzogen halten. Dieser Anfangspreis setzt sich in unserem Hirn gleichsam als Anker fest. Unser Urteil darüber, was das betreffende Gut tatsächlich wert ist, wird dadurch zumindest ein wenig nach oben verzerrt. Das freut den Händler. Wenn wir mit unseren exotischen Schnäppchen wieder glücklich Zuhause angekommen sind, kann es uns allerdings passieren, dass wir ein ganz ähnliches Produkt zu einem deutlich niedrigeren Preis im Kaufhaus nebenan finden.

Auf der politischen Ebene spielt sich Ähnliches ab, nur dass es hier nicht um Cent- und Euro-Beträge, sondern um Millionen, Milliarden und Billionen geht. Ob die Summen, die der Staat für dieses oder jenes ausgibt, groß oder klein sind, entzieht sich für den Normalbürger weitgehend der Beurteilung. Wer hat schon eine begründete Vorstellung davon, ob ein bestimmtes staatliches Ausgabenprogramm, dessen finanzielle Dimensionen weit über das eigene private Haushaltsbudget hinausreichen, groß oder klein ist? Zur Bewertung benötigen wir einen Anker – etwa durch Vergleiche mit anderen staatlichen Ausgabenprogrammen. Wenn all die Vergleichsprogramme im Millionenbereich angesiedelt sind, dann werden wir geneigt sein, die Kosten eines neuen Programms, das in diesen Rahmen passt, als finanziell angemessen anzusehen. Programme, die in den Milliardenbereich hineinragen, werden wir dann als extrem teuer bewerten.

Im Zuge der Rettungsprogramme scheint es ganz selbstverständlich geworden zu sein, bei staatlichen Ausgaben alle Beträge im Millionenbereich oder darunter als weitgehend irrelevant anzusehen. Den vom Millionen- in den Milliardenbereich verrutschten Anker tragen wir hinein in die Beurteilung aller möglichen Politikmaßnahmen, so dass uns auch außerhalb der Rettungspakete Milliardenbeträge nicht mehr stutzen lassen.

Wäre Geld nicht knapp, dann wäre alles dies kein Problem. Dann würden die Bildungs- und Sozialetats eben nicht um wenige Prozentchen erhöht oder gar gekürzt, sondern kräftig aufgestockt. Dies alles ist aber leider nicht finanzierbar, was früher einmal den meisten Bürgern durchaus eingeleuchtet hat. Heute aber sieht sich die Politik immer weniger in der Lage, den Bürgern das zu geben, was sie erwarten und was sie glauben, dass es ihnen zustehe. Die Konsequenz ist ein Verlust des Vertrauens, dass es in unserer Gesellschaft einigermaßen fair und gerecht zugehe.

In den Standard-Lehrbüchern der Ökonomie spielt der Wirtschaftsfaktor Vertrauen – genau wie der Ankereffekt – keine Rolle. Dabei kann eine Marktwirtschaft ohne Vertrauen gar nicht funktionieren. Wir meinen zwar gelegentlich, unser Wirtschaftsleben sei in erster Linie durch Recht und Gesetz geregelt. Doch wenn jede Einzelheit des alltäglichen Wirtschaftslebens im Detail reguliert wäre und jeder nur das täte, wozu er gesetzlich gezwungen wäre, dann wäre das wirtschaftliche Leben schnell erstickt. Würden wir vor jeder Handlung stets im Gesetzbuch nachschlagen und bei jeder Streitigkeit die Justiz bemühen, kämen wir schließlich gar nicht mehr zu produktiver Arbeit.

Auf kurze Sicht machen beschädigte Anker das Politikerleben durchaus leichter. Denn sie erlauben den großzügigen Umgang mit Steuergeldern. Doch auf längere Sicht sieht es anders aus. Wer seine Wähler immer wieder enttäuscht, weil die tatsächlich umsetzbaren Politikmaßnahmen vom finanziellen Umfang her weit hinter den Erwartungen der Bevölkerung zurückbleiben, um dessen Wiederwahl wird es nicht zum Besten bestellt sein.

Was ist zu tun: Bisher versucht es die Politik mit der Strategie, die immensen Summen aus den Rettungsschirmen quasi als Spielgeld darzustellen, da es sich ja nur um Garantien und Bürgschaften und nicht um „echtes“ Geld handeln würde. Diese Strategie ist extrem kurzsichtig, denn es ist absehbar, dass die Bundesrepublik Deutschland und damit der deutsche Bürger durchaus in nennenswertem Ausmaß und durchaus real in Anspruch genommen werden wird. Spätestens dann, wenn Straßen, Schulgebäude und Krankenhäuser nicht mehr angemessen unterhalten werden können, weil die dafür nötigen Mittel unter den Rettungsschirmen verschwunden sind, wenn die Steuern erhöht werden müssen, damit Deutschland seinen Verpflichtungen aus EFSF und ESM nachkommen kann, und wenn es die Europäische Zentralbank nicht mehr schafft, das Preisniveau im Griff zu behalten, dann wird die Strategie der Verharmlosung in sich zusammenfallen.

Auf der politischen Ebene haben wir es hier leider mit einem ausgeprägten Erkenntnisproblem zu tun und nicht nur mit einem Umsetzungsproblem, wie vielfach behauptet. Viele Parlamentarier, die den Rettungsschirmen ihren Segen geben, wissen offenbar gar nicht, was sie da eigentlich anrichten. Eine vermutlich nicht ganz kleine Zahl von Bundestagsabgeordneten glaubt, es gehe vor allem darum, Zeit zu gewinnen und die Finanzmärkte zu beruhigen. Ihnen ist offenbar selbst schon der Anker abhanden gekommen. Sie erkennen nicht, dass sie das Vertrauen, das sie auf diese Weise an den Finanzmärkten aufbauen wollen, bei den Bürgern umso nachhaltiger zerstören.

Um einer irreparablen Diskreditierung der marktwirtschaftlichen Ordnung entgegenzuwirken, müssen die Maßstäbe zurechtgerückt und die Anker instandgesetzt werden. Ein erster notwendiger Schritt dafür ist die Verbreitung der Erkenntnis, dass die Milliarden- und Billionen-Beträge, um die es bei den Rettungsschirmen geht, echtes Geld darstellen und keine vagen Versprechungen, aus denen man sich jederzeit zurückziehen könnte.

Ein zweiter wichtiger Schritt liegt darin, die Dimensionen, um die es konkret geht, für die Öffentlichkeit möglichst plastisch darzustellen. Für den geschulten Ökonomen hat es ohne Zweifel etwas Erschreckendes, dass die Haftungssummen, mit denen Deutschland sich in der Euro-Krise engagiert, etwa die Hälfte der aktuellen Staatsverschuldung ausmachen. Wenn sie in vollem Umfang gezogen würden, stiege die deutsche Staatsverschuldung von derzeit etwa 80 Prozent auf 120 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und wäre damit etwa hoch wie in Portugal und Italien und fast doppelt so hoch wie in Spanien.

Für die meisten Bürger dürften diese Zahlen allerdings relativ abstrakt und wenig furchteinflößend wirken. Plastischer dürfte für sie die einfache Rechnung sein, nach der Haftungssummen von rund einer Billion Euro bei einer Bevölkerung von 80 Millionen Einwohnern eine Belastung pro Kopf von 12 000 Euro ergeben. Und dabei sind Neugeborene und Hochbetagte gleichermaßen mitgezählt. Die Belastung derjenigen Personen, die ihr eigenes Einkommen erwirtschaften, liegt überschlagsmäßig bei 30 000 bis 40 000 Euro.

Noch plastischer wird die Billion durch den Vergleich, wie hoch ein Turm aus übereinander geschichteten Geldscheinen wäre. Nach Angaben der Deutschen Bundesbank haben Euro-Scheine eine Stärke von 0,1 mm. Eine Million Euro in 100 Euro-Scheinen – übereinander gestapelt und gut gepresst – ergibt demnach einen Turm von 1 m Höhe. Der Turm für eine Milliarde Euro ist immerhin schon 1.000 m hoch. Das Burj Khalifa in Dubai, das derzeit höchste Gebäude der Welt, bringt es gerade einmal auf 828 Meter, also auf rund 20 Prozent weniger. Der Billionen-Turm schließlich ragt stolze 1.000 km in die Höhe. Seine Spitze befindet sich also im tiefsten Weltall, denn die Troposphäre schafft es nur bis in eine Höhe von rund 10 km und die Stratosphäre reicht bis 50 km hinauf.

Je besser es gelingt, die gewaltigen Dimensionen der Rettungspakete deutlich zu machen, desto eher wird die Politik bereit sein, auf auch für sie verlässlichen Ankergrund zurückkehren. Und je eher wir aufbrechen, desto kürzer der Weg.

(Kurzfassung eines Vortrags, der vom Wirtschaftspolitischen Club Deutschland als Impulsrede zur Sozialen Marktwirtschaft veröffentlicht worden ist.)