„Wir Ärzte müssen unseren Patienten helfen“

Süddeutsche Zeitung vom 26.06.2013

Erst eröffnete er eine Praxis für Menschen ohne Krankenversicherung. Dann legte er sich mit den Behörden an, die immer mehr Menschen Heizung, Licht und Wasser abstellen. Und plötzlich war sein Auto kaputt und der Laptop weg: Wie der Arzt Giorgos Vichas unfreiwillig zum Helden der griechischen Krise wurde.

Von Alex Rühle, Athen

Mut bedeutet nicht, keine Angst zu haben; Mut bedeutet, etwas zu tun, obwohl man Angst hat. Giorgos Vichas hatte nie vor, ein Held zu werden. Dafür ist er viel zu schüchtern. Vichas arbeitet als Kardiologe in einem Athener Krankenhaus. Als es vor Jahren darum ging, Karriere zu machen, hat er darauf verzichtet, um weiterhin mehr Zeit für seine Frau und seine beiden Töchter zu haben. Aber dann kam die Krise. Und jetzt ist er fast eine Art Staatsfeind.

Giorgos Vichas sitzt in seinem kleinen Untersuchungsraum in der Sozialen Arztpraxis in Elleniko und erzählt von der Schwangeren, die gerade da war. Siebter Monat. Und bislang kein Arztbesuch. Gerade eben wurde sie erstmals untersucht.

Vichas strahlt beim Erzählen eine große Ruhe aus. Müdigkeit, klar, die auch: Er macht das hier ja nebenher, das heißt, er hat seinen Job und kommt danach erst in die kostenlose Notfallpraxis, in der auch an diesem Abend wieder viel zu viele Menschen auf eine Behandlung warten. Aber die Müdigkeit weht um ihn wie ein Arztkittel, etwas Äußerliches, Unwichtiges: Im Kern wirkt Vichas trotz seiner beeindruckend dunklen Augenringe nicht matt oder abgeschlafft. Im Gegenteil, er scheint das stille Kraftzentrum der ganzen Praxis zu sein. Jetzt muss er kurz mal in den Nebenraum, eine Kollegin hat ein Baby untersucht, das seit der Geburt vor fünf Monaten nur 200 Gramm zugenommen hat, also können wir die Zeit nutzen und kurz die Vorgeschichte erzählen.

Die größte Krankenversicherung horrend verschuldet

2010 merkte Giorgos Vichas, dass immer mehr seiner Herzpatienten nicht mehr zur Untersuchung kamen. Seit der Verabschiedung der Sparmemoranden muss man entweder krankenversichert sein oder aus der eigenen Tasche zahlen, damit man in einem öffentlichen Krankenhaus noch behandelt wird. Wer länger als ein Jahr arbeitslos ist, verliert seine Krankenversicherung. Aber selbst die Versicherten müssen mittlerweile meist im Voraus bezahlen: Die größte griechische Krankenversicherung ist so verschuldet, dass sie die Rechnungen nicht mehr begleichen kann, also verlangen die Ärzte das Geld im Voraus. Mit dem Resultat, dass immer mehr Kranke einfach zu Hause bleiben.

Am 15. Dezember 2011 gründete Giorgos Vichas zusammen mit vier anderen Ärzten diese Praxis. Sie hatten im Süden von Athen ein eingeschossiges Gebäude gefunden, das leer stand und gaben sich drei Regeln: Kein Geld, weder als Bezahlung noch als Spende. Keine politischen Gespräche während der Arbeit. Und Institutionen, die ihnen größere Sachspenden überlassen, dürfen das nur tun, wenn sie ihnen versprechen, die Spende nicht für irgendwelche PR-Kampagnen zu nutzen.

Zwischen Dezember 2011 und August 2012 kamen 1200 Patienten, die meisten von ihnen arbeitslos. Allein im September und Oktober 2012 kamen dann schon 1300. Mittlerweile ist das Wartezimmer immer brechend voll. Und die Situation hat sich so verschärft, dass Vichas nicht mehr nur behandelt, verschreibt, oder Kranke an kooperierende Krankenhäuser vermittelt, sondern eine eigene Form des zivilen Widerstands entwickelt hat.

Es fing an mit Konstantinos Paleologos: Ehemaliger Werber, Oxford-Abschluss, eigene kleine Firma, ein gutes Mittelstandsleben. Dann kam die Krise. Heute ist Paleologos 60 Jahre alt, leidet an Depressionen und rheumatischer Arthritis und wird von der Kirche mit Lebensmitteln versorgt, sein 86-jähriger Vater zahlt ihm die Miete.

Dummerweise hatte dieser Paleologos Stromschulden von 2075 Euro. Er schrieb flehentliche Briefe an das Stromunternehmen DEI, in denen er seinen Fall erklärte, bekam aber nie Antwort. Oder nur indirekt: Als er wegen seiner Arthritis zur staatlichen Notfallambulanz für soziale Härtefälle kam, wurde er abgewiesen: Wer seinen Strom nicht bezahlt, darf auch keine ärztliche Hilfe mehr in Anspruch nehmen.

Der eigene Widerstand

Als kurz darauf die Mitarbeiter des DEI bei ihm vorbeikamen, um den Strom abzustellen, kam er mit einer Axt aus der Wohnung. Er griff niemanden an, sagte aber, er werde seine Heizung verteidigen, Winter ohne Strom bedeute für ihn unerträgliche Schmerzen. Die Mitarbeiter stellten den Strom dennoch ab und zeigten ihn an. Daraufhin kam Paleologos erstmals in Vichas‘ Ambulanz.

Als Vichas den Stromkonzern via Facebook aufforderte, dem Patienten die Heizung wieder anzustellen, drohte der Sprecher von DEI, wenn Vichas weiterhin die sozialen Medien dazu nutze, „Forderungen durchzusetzen, die gegen die Gesetze und das moralische Empfinden verstoßen“, werde man die zuständigen Behörden dazu veranlassen, „Ihren Trägerverein gründlich zu durchleuchten.“

Trägerverein? Welcher Trägerverein? „Eben“, sagt Vichas lachend. „Es gibt keinen Trägerverein. Es gibt kein Geld. Es gibt nur uns.“ Soll heißen: 220 freiwillige Mitarbeiter. 90 davon sind Ärzte, Pharmakologen, Psychologen, Zahnärzte; die anderen sind Krankenschwestern oder Laien, die putzen oder all die angebrochenen oder abgelaufenen Medikamente sortieren und zählen, die von freiwilligen Helfern im ganzen Land eingesammelt werden.

Elena Bazakopoulou ist eine von ihnen: Eine Wirtschaftswissenschaftlerin, die zwei Abende die Woche mithilft. Sie steht inmitten der Arzneischränke und zeigt auf eine Tüte voller Kapseln und Päckchen: Die Angehörigen eines verstorbenen Krebspatienten waren gerade da und haben die restlichen Chemotherapie-Medikamente vorbeigebracht. Im Wandschrank hinter ihr werden Windeln und Milchpulver gesammelt: Die meisten Neugeborenen, die hier auftauchen, haben mittlerweile Untergewicht. Bazakopoulou erzählt von diesem Baby, das kürzlich eine Flasche Medizin leer saugte. „Das Kind hatte wegen seiner Unterernährung eine Bronchitis, die Ärztin gab ihm ein ekelhaft schmeckendes Antibiotikum, das hat es in seinem Heißhunger einfach verschlungen.“

Vichas sagt: „Solche Geschichten dürfte es doch in Europa gar nicht geben.“ Er erzählt von einer weiteren Familie, der der Athener Wasserkonzern kürzlich die Leitung zudrehte. Die Eltern sind beide arbeitslos, sie haben zwei kleine Kinder – und kein Wasser mehr. Vichas veröffentlichte auch diesen Fall und rief die Athener dazu auf, dagegen zu protestieren. Nach ein paar Tagen rief die Geschäftsführung des Konzerns an: Man werde das Wasser wieder anstellen, aber Vichas habe mit seiner Agitationsarbeit eine Rote Linie überschritten. Die Stromfirma sekundierte, es müsse jetzt Schluss sein mit Vichas‘ illegalen Aktionen.

Wir Ärzte müssen unseren Patienten helfen

Und? Ist es nicht illegal, was er macht? Schließlich nennt er in seinen offenen Briefen die angestellten Sachbearbeiter der Konzerne beim Namen. Vichas zuckt die Achseln. „Kennen Sie Sophokles‘ Antigone? Kreon verbietet ihr, den eigenen Bruder zu bestatten. Nach dem Gesetz hat Kreon Recht. Aber Antigone hat trotzdem die Verpflichtung ihren Bruder zu beerdigen. Wir Ärzte müssen unseren Patienten helfen. Also mache ich weiter.“

Kurz nach dem Telefonat mit dem Wasserkonzern wurde Vichas‘ Auto demoliert. „Da dachte ich noch, das waren einfach nur jugendliche Randalierer.“ Aber dann wurde in seinem Büro in der Klinik eingebrochen. Ein USB-Stick fehlte. Vor Kurzem verschwand sein Laptop.

„Aber haben Sie keine Angst?“ „Seh ich aus wie ein Actionheld? Natürlich habe ich Angst. Aber wenn diese Krise mal vorüber ist, dann möchte ich meinen Töchtern in die Augen schauen können.“

Momentan sieht es nicht so aus, als würde die Krise bald vorüber sein. Die Troika forderte gerade wieder Einsparungen im Gesundheitsbereich. Vichas macht weiter. Treibt Medikamente für eine Nierenkranke ein. Schreibt Briefe ans Stromunternehmen. Und? Was braucht er momentan am dringendsten? Vichas überlegt, dann sagt er: „Krebsmedikamente, ein Herz-Ultraschallgerät, einen Sauerstoffkondensator . . . Aber vor allem brauchen wir ein Gefühl von Solidarität.“