Experten werfen US-Regierung Entwicklung neuer Atomwaffen vor

Spiegel Online, 18.10.2013

von Markus Becker

Die USA investieren viele Milliarden Dollar in ihr Atomwaffen-Arsenal. Ein Forscherverband kritisiert jetzt rasant steigende Kosten – und wirft Washington vor, unter dem Deckmantel der Modernisierung neue Waffen zu entwickeln. Die sollen auch in Deutschland stationiert werden.

Über nukleare Abrüstung hat Barack Obama schon viel geredet. In seiner Prager Ansprache 2009 entwarf er, frei nach dem Motto „Yes, we can!“, die Vision einer Welt ohne Atomwaffen. In seiner Berliner Rede im Sommer dieses Jahres war er dann schon wesentlich bescheidener: Die Zahl der amerikanischen Atomwaffen könnte um ein Drittel sinken, gesetzt den Fall, die Russen spielten bei den Verhandlungen mit.

Doch die Realität sieht anders aus, wie Kritiker jetzt erneut bemängeln. Der US-Forscherverband Union of Concerned Scientists (UCS) hat einen umfangreichen Bericht über die Modernisierung des amerikanischen Atomwaffen-Arsenals vorgestellt. Von Abrüstung ist darin nicht besonders viel zu erkennen. Darüber hinaus werfen die Wissenschaftler der US-Regierung vor, über die reine Instandhaltung ihrer Atomwaffen hinauszugehen und praktisch neue Waffensysteme zu entwickeln.

Die Regierung in Washington steht schon lange vor einem Dilemma: Die letzte US-Atomwaffe wurde 1990 entwickelt und basiert auf der Technologie der siebziger Jahre. Seit 1992 haben die USA ihre unterirdischen Bombentests gestoppt und sind seitdem auf Computersimulationen angewiesen. Zugleich aber altert das Arsenal. Um die Sicherheit und Zuverlässigkeit der Waffen zu gewährleisten, sind ungeheure Investitionen notwendig. Denn noch immer verfügen die USA über rund 7700 Atomsprengköpfe, von denen 2150 aktiv sind.

Wirklich nur Lebenszeitverlängerung?

60 Milliarden Dollar will die US-Regierung dem UCS-Bericht zufolge in den kommenden 25 Jahren in die Modernisierung ihres nuklearen Arsenals investieren. Das allerdings sei nur ein Bruchteil dessen, was die Supermacht in dieser Zeit insgesamt für ihre Atomwaffen ausgeben werde, heißt es. Der 81 Seiten starke UCS-Report nennt einige Beispiele:

  • Die Kosten für eine Chemie- und Metallurgie-Einrichtung am Los Alamos National Laboratory seien auf 3,7 bis 5,9 Milliarden Dollar explodiert – das Sechs- bis Neunfache der Schätzung von 2004.
  • Der Neubau einer Uran-Verarbeitungsfabrik sollte 2004 zwischen 600 Millionen und 1,1 Milliarden Dollar kosten, inzwischen ist von 7,5 Milliarden die Rede.
  • Die Modernisierung der Fliegerbomben vom Typ B61 wurde 2010 vom US-Energieministerium auf knapp zwei Milliarden Dollar veranschlagt, verteilt auf vier Jahre. Später war dann von vier Milliarden, 2012 bereits von sechs Milliarden die Rede. Inzwischen sind es nach Angaben der UCS volle zehn Milliarden Dollar (7,4 Milliarden Euro).

Das „Lebenszeitverlängerungsprogramm“ der B61-Atombombe steht schon lange in der Kritik. In Westeuropa stationierte nukleare Fliegerbomben, darüber herrscht unter Experten weitgehender Konsens, seien militärisch nutzlose Relikte aus dem Kalten Krieg, die schnellstens abgeschafft gehörten. Doch die US-Regierung macht nicht nur keinerlei Anstalten, die Waffen abzuziehen – sie modernisiert sie so stark, dass Fachleute bereits von komplett neuen Systemen sprechen.

Die UCS äußert sich nun ähnlich. Zwar werde die Zahl der amerikanischen Atomsprengkopf-Typen im Zuge des Modernisierungsprogramms von sieben auf fünf sinken. Die aber würden dann in unterschiedlichen Waffen zum Einsatz kommen: drei in Langstreckenraketen, zwei in Bomben und Marschflugkörpern. Dieses Vorhaben „verletzt den Geist, wenn nicht sogar die Buchstaben des Versprechens der Regierung, keine neuen Atomwaffen zu entwickeln“, sagte Philip Coyle vom Center for Arms Control and Non-Proliferation, einer der Autoren des UCS-Berichts.

Das ist keineswegs eine Petitesse. Erst 2011 ist der „New Start“-Abrüstungsvertrag in Kraft getreten, in dem sich die USA und Russland verpflichtet haben, bis zum Jahr 2018 die Zahl ihrer im Feld stationierten Atomsprengköpfe von derzeit rund 4000 auf 1550 zu verringern. Kritiker befürchten, dass künftige Abrüstungsgespräche massiv erschwert würden, sollten die Amerikaner trotz gegenteiliger Zusagen plötzlich Waffen mit ganz neuen Fähigkeiten stationieren.

Genug Stoff für 13.000 Atomwaffen

Die runderneuerte B61-Bombe etwa, der B61-12, wäre nach Meinung des US-Abrüstungsexperten Hans Kristensen eine solche Waffe. Ab 2019 sollen nach aktuellen Plänen rund 400 Stück hergestellt werden, von denen ein Teil auch in Deutschland stationiert werden soll. 10 bis 20 ältere Exemplare der Atombombe lagern derzeit auf dem Fliegerhorst des Eifeldorfs Büchel.

Sorgen bereitet der UCS auch die gigantische Menge inaktiver Atomwaffen. Nach Zahlen des Stockholmer Abrüstungsinstituts Sipri besitzen die USA rund 2500 Sprengköpfe in Reserve. Hinzu kommen etwa 3000, die auf ihre Zerstörung warten. „Große Mengen an Plutonium und hochangereichertem Uran werden militärisch nicht mehr benötigt“, heißt es im UCS-Bericht. Zwar plane die National Nuclear Security Administration (NNSA) – jene Abteilung des US-Energieministeriums, die für Atomwaffen zuständig ist – die Vernichtung eines Großteils des Spaltmaterials der außer Dienst gestellten Waffen.

Doch selbst danach, so die UCS, verfügten die USA noch immer über genug Stoff für 13.000 Atomwaffen. Die Regierung, so die Forderung der Wissenschaftler, sollte deshalb mehr von diesem Material entsorgen – und zwar auf sichere Art, schon um Diebstahl zu vermeiden. Dass solche Sorgen nicht unberechtigt sind, zeigte ein Bericht der Nuclear Threat Initiative (NTI), der teils haarsträubende Schlampereien bei der Sicherung von Atommaterial weltweit anprangerte.

Die UCS sieht auch in den USA potentielle Probleme. So wolle die NNSA überschüssiges Plutonium loswerden, indem sie es für die Herstellung sogenannter Mischoxid- oder Mox-Brennstäbe für Atomkraftwerke verwende. „Das beinhaltet bedeutende Sicherheitsrisiken“, schreibt die UCS. Die NNSA sollte ihr Mox-Programm stoppen – und das Plutonium besser in Form von Glas oder Keramik entsorgen.