Die Deutschen müssen sich an Armut gewöhnen

DIE WELT, 15.08.13

Die abnehmende Zahl der Bevölkerung sollte eines der Hauptthemen des Wahlkampfes sein, doch die Parteien fürchten sich davor. Sie wissen, was uns erwartet. Ehrlicher wäre es, die Wahrheit zu sagen. Von Reiner Klingholz

Was Wahlkämpfer dieser Tage wirklich zu interessieren scheint, sind Themen, deren Bedeutung kaum die nächsten Legislaturperiode überleben dürften: Mietpreise, Veggie Day, Prism-Affäre etc. Ein anderes Thema, das unser Land in einer Weise verändern wird, für die es in der Geschichte kein Vorbild gibt, spielt kaum eine Rolle: die demografische Entwicklung.

Es wird wohl bis 2050 knapp acht Millionen Erwerbsfähige weniger geben, die für das wirtschaftliche Wohl des Landes sorgen können – und zwar sogar dann, wenn das Rentenalter auf 69 Jahre angehoben würde. Umgekehrt dürfte sich die Zahl der Rentner und Pensionäre selbst bei dieser Altersgrenze um knapp drei Millionen erhöhen.

Die Zahl der Pflegebedürftigen wird sich verdoppeln. Und jene der jungen Menschen im Ausbildungsalter um fast ein Drittel sinken. Das sind jene Nachwuchskräfte, auf deren Schultern einmal die Kosten des demografischen Wandels lasten werden.

Ächtzende Sozialsysteme

Deutschland ist auf diesem demografischen Entwicklungspfad so weit fortgeschritten, dass es kein Zurück mehr gibt. Es geht, ähnlich wie beim Klimawandel, nur noch um Schadensbegrenzung und Anpassung. Und um Wahrheiten, denn die Versorgungsstandards, an die wir uns alle in einer gefühlten Ewigkeit des Wachstums gewöhnt haben, werden sich nicht halten lassen. In Deutschland waren im vergangenen Jahr rund 284.000 Menschen ohne Wohnung. Die Zahl der Wohnungslosen habe im Vergleich zu 2010 einen „drastischen Anstieg“ um rund 15 Prozent erfahren, sagte der Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W), Thomas Specht, am Donnerstag in Berlin Foto: AFP In Deutschland waren im vergangenen Jahr rund 284.000 Menschen ohne Wohnung. Die Zahl der Wohnungslosen habe im Vergleich zu 2010 einen „drastischen Anstieg“ um rund 15 Prozent erfahren, sagte der Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W), Thomas Specht, am Donnerstag in Berlin

Es ist völlig klar, dass die Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft nicht ausreichen wird, um die Sozialsysteme wie gewohnt zu finanzieren. Um zugleich in Familien, Bildung und Forschung und damit in die Zukunft zu investieren. Um die öffentliche Infrastruktur auch in den schrumpfenden ländlichen Regionen aufrecht zu erhalten und um gleichzeitig den Schuldenberg abzutragen, der sich zu Zeiten aufgetürmt hat, als das Wirtschaften einfacher war. Das Thema des demografischen Wandels ist somit das Ende des „Immer Mehr von Allem“. Deshalb ist es so unbeliebt in Wahlkampfzeiten.

Die Bundesregierung hat zwar im vergangenen Jahr eine Demografiestrategie präsentiert, mit der sie den Wandel bewältigen will. Aber diese Strategie gleicht einem Strauß von Wünschen, wobei nicht klar ist, wie diese unter Berücksichtigung der verfügbaren Mittel zu erfüllen wären.

Rückzug aus der Vernunft

Die Umsetzung dieser Strategie würde Wirtschaftswachstum und Steuereinnahmen in einer Höhe erfordern, die unter den Bedingungen von Alterung und Bevölkerungsrückgang undenkbar sind.

Während sich das Regierungslager seinen Wachstumsträumen hingibt, arbeitet die SPD noch ihre Albträume auf. Sie hat zwar einst die ersten Schritte zu den notwendigen Reformen selbst angeschoben beziehungsweise in der Großen Koalition mit verantwortet. Aber jetzt will sie all dies wieder aus der Welt schaffen, als habe sich der demografische Wandel schon wieder verflüchtigt, bevor er überhaupt zum Tragen kommt.

Wie ängstlich die Bundesregierung an das Thema herangeht, zeigt sich daran, dass sie ihre Demografiestrategie 2030 enden lässt – genau dann, wenn die Verrentungswelle der kopfstarken Babyboomer-Generation ihren Höhepunkt erreicht und die eigentlichen demografischen Probleme überhaupt erst beginnen.

Das Ende gleichwertiger Lebensverhältnisse

Zudem klammert die Strategie die eigentlichen Baustellen der Demografiepolitik aus. Zu der Frage, wie die Renten-, Gesundheits- und Pflegeversicherungen demografiefest gemacht werden können, verliert sie kein Wort. Wer die ungedeckten Multimilliarden-Pensionsansprüche bei gleichzeitiger Schuldenbremse finanzieren soll – Fehlanzeige.

Wie sich der Anspruch „gleichwertiger Lebensverhältnisse“ zwischen den sich rasant auseinander entwickelnden Wirtschaftszentren der Republik und den abgehängten ländlichen Räumen garantieren lässt – Funkstille. Auch die hochkarätig besetzten Arbeitsgruppen, mit denen die Bundesregierung die Strategie mit Leben füllen will, befassen sich nicht mit diesen Fragen – denn sie sollen es nicht.

Notwendig wäre es, Widersprüchlichkeiten in der Familienpolitik zu beseitigen, um dem Nachwuchsmangel – einer der Hauptursachen der demografischen Probleme – zu begegnen. Denn die Politik fördert noch immer das klassische Zusammenleben mit Trauschein, unabhängig davon, ob diese Menschen überhaupt Kinder haben.

Wichtig sind die Kinder

Die Familienpolitik sollte unabhängig von der Lebensform jene unterstützen, die sich um Kinder oder Alte kümmern. Sie sollte für mehr Gerechtigkeit sorgen, zwischen denen, die für andere Verantwortung übernehmen und jenen, die das nicht tun. Bisher findet nämlich eine Umverteilung von kinderreichen Familien zu Kinderarmen oder Kinderlosen statt.

Sinnvoll wäre es, die Rentengarantie, nach der die Renten niemals sinken dürfen, zurückzunehmen. Denn sie führt bei nachlassendem Wirtschaftswachstum zwangsläufig zu einer Umverteilung von Jung zu Alt und verstößt gegen die Generationengerechtigkeit. Zudem sollte das Renteneintrittsalter ein für allemal an die Zunahme der Lebenserwartung gekoppelt werden – auch um so dem Streit um eine Rente mit 65, 67 oder 69 den Boden zu entziehen.

Angebracht ist schließlich auch, sich von einem jahrzehntealten Dogma bundesdeutscher Politik zu lösen, von dem Ziel, in allen Regionen des Landes „gleichwertige Lebensverhältnisse“ zu garantieren. Diese Vorstellung stammt aus den Nachkriegsjahren der alten Bundesrepublik, als sowohl Bevölkerung, wie auch Einkommen und Staatseinnahmen kontinuierlich stiegen und eine Anpassung nach oben möglich war.

Zusammenleben neu verhandeln

Doch längst ist dort, wo einst alles zugebaut und versiegelt wurde, ein Rechts- und Planungsrahmen für das Schrumpfen vonnöten. Die Verwaltung muss die Ungleichheit der Regionen begleiten, bis hin zum kontrollierten Rückzug, denn verhindern kann sie diese auch mit enormen Subventionen nicht. Die vergangenen 23 Jahre haben dies gezeigt.

All diese unbequemen Wahrheiten mutet die Politik den Bürgern nicht zu. Soll die Demokratie im demografischen Wandel eine Chance haben und nicht zu einer Interessengemeinschaft der Anspruchsnehmer verkommen, muss die Politik mit den Bürgern das Zusammenleben neu verhandeln. Es geht darum, wie ein Wohlergehen der Gesellschaft mit sehr wenig oder gar ohne Wachstum zu organisieren ist.

Wozu aber ist ein Wahlkampf da, wenn jene, die sich zur Wahl stellen, mit dem Volk gar nicht über die Aufgaben der Zukunft diskutieren wollen?

Reiner Klingholz ist Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. Das Institut hat am 12. August 2013 seinen Gegenvorschlag zur Demografiestrategie der Bundesregierung vorgestellt.